Digitale Verwaltung: In Österreich herrscht Visionslosigkeit

Die Basisarbeit ist gemacht, nur wird zu wenig darauf aufgebaut. Daniela Riegler und Maxim Orlov von der österreichischen Nortal GmbH sehen einen dringenden Handlungsauftrag an die künftige Regierung.

Dieses Interview mit den beiden Nortal-Expert:innen Daniela Riegler und Maxim Orlov ist am 7. Oktober 2024 in „derstandard“ erschienen: https://www.derstandard.at/story/3000000239418/digitale-verwaltung-in-oesterreich-herrscht-visionslosigkeit

 

Daniela Riegler ist Geschäftsführerin der neuen österreichischen Niederlassung der Nortal Group, einer Unternehmensgruppe, die sich ganz auf die Digitale Transformation spezialisiert hat. Gemeinsam mit Maxim Orlov, Business Development Consultant, hat sie DER STANDARD zum Doppelinterview gebeten. Das Thema: Wohin geht die digitale Verwaltung in Österreich, was muss die künftige Regierung dringend angehen und was können wir von anderen Staaten lernen?

 

STANDARD: Österreich rühmt sich ja gerne, ein Vorreiter der digitalen Verwaltung zu sein, und zieht zum Vergleich gerne Deutschland heran. Stimmt diese Darstellung?

Daniela Riegler: „Um diese Frage zu beantworten, kann man zuerst einmal auf die Zahlen schauen: In der aktuellen E-Government Survey der Vereinten Nationen steht Deutschland im Jahr 2024 sogar besser da als Österreich. Man könnte dagegen argumentieren, dass der Index wichtige Faktoren nicht berücksichtigt. In Österreich leisteten Behörden wie das Bundesrechenzentrum oder die Fachabteilungen des Bundeskanzleramts exzellente Aufbauarbeit. Dazu gehört vor allem die Digitalisierung, Vernetzung und Optimierung der Registerlandschaft sowie die Einführung der ID Austria. Ein weiteres Beispiel ist der elektronische Akt. Diesen gibt es schon seit 20 Jahren, und er wird laufend weiterentwickelt. Deutschland hingegen hat bis heute keine flächendeckende elektronische Geschäftsfallbearbeitung.“

Maxim Orlov: „In der Nutzung der bestehenden digitalen Verwaltungsleistungen kann Österreich noch stärker werden. Ein engeres Zusammenwirken mit Krankenhäusern, Versicherungen, Hausverwaltungen wäre erforderlich. Österreich ist auf dem ,digitalen Weg‘ gut unterwegs, heißt aber nicht, dass das Ziel in Sicht ist. Es gibt noch viel zu tun.“

 

STANDARD: In den vergangenen Jahren waren Launches von digitalen Behördendiensten immer wieder von Pannen überschattet. Der Umstieg von Handysignatur auf ID Austria funktionierte nicht richtig, als der digitale Führerschein online ging, kollabierten die Server. Wie sehr erschüttern solche Berichte das Vertrauen in die staatliche Digitalkompetenz?

Daniela Riegler: „Wenn zukunftsfähige Verwaltungsleistungen entwickelt werden, müssen auch Rückschläge erlaubt sein. Ja, Vertrauen geht verloren, aber es ist in gewisser Weise auch ein Mindset-Change nötig. Projekte sollten nicht Big-Bang-mäßig ausgerollt werden, sondern in schnellen Iterationen mit überschaubaren Nutzergruppen bereitgestellt und dann verbessert werden. Der Nutzen muss schnell verifiziert werden. In Estland gibt es keine Projekte, die Jahre dauern, sondern nach maximal drei bis sechs Monaten werden erste Version gelauncht und dann iterativ weiterentwickelt.“

Maxim Orlov: „Man erwartet, dass Institutionen in der öffentlichen Verwaltung auch digital am Puls der Zeit sind, die besten Entwicklerinnen und Entwickler haben und nach Launches alles glatt läuft. Ist das nicht so, geht mit Sicherheit eine Menge Vertrauen verloren à la „Die haben es doch eh wieder nicht hingekriegt“. Fehler lassen die Verwaltung im Licht einer geringeren Kompetenz erscheinen. Eine breite Akzeptanz für neue digitale Verwaltungsleistungen wird durch Zugänglichkeit, also Design und Usability, sowie Kommunikation erreicht. Das steigert Vertrauen und Kooperation zwischen Bürgerinnen, Bürgern, Unternehmen und Staat.“

Maxim Orlov ortet Aufholbedarf in der digitalen Verwaltung in Österreich.

STANDARD: Wo sehen Sie die größten Baustellen in der digitalen Verwaltung in Österreich?

Maxim Orlov: „Laut einem OECD-Bericht 2023 ist Österreich unterdurchschnittlich im Digital Government Index, vor allem in den Bereichen „datengetriebener öffentlicher Sektor“ und „Proaktivität“ gibt es laut dem Bericht Nachholbedarf.“

Daniela Riegler: „Jedoch stellt sich die Hauptfrage, wohin sich Österreich im E-Government entwickeln möchte. Wie sieht die digitale Verwaltung im Jahr 2035 aus? Es wurden viele Strategien ohne Verbindlichkeitscharakter veröffentlicht. Aber welche greifbare Vision verfolgt man, um alle Initiativen darauf ausrichten zu können? Eine anfassbare Vision, die alle Bürger mitnehmen kann, ist etwa die Idee des „Personal Government in der Hosentasche“. Sie hat den Anspruch, alles was Bürgerinnen und Bürger von Staat und Verwaltung brauchen, in nur drei Klicks zugänglich zu machen. Diese jetzt herrschende Visionslosigkeit ist ein Problem, insbesondere wenn man die Vorreiterrolle behalten möchte.“

 

STANDARD: Häufig werden für digitale Behördendienste Gebühren verlangt – ich habe es in einem Kommentar einmal selbst als „Geist der Stempelmarke“ bezeichnet. Sind Gebühren für gewisse staatliche Leistungen in Ordnung, auch wenn sie ausschließlich digital erfolgen?

Daniela Riegler: „Grundsätzlich bedeutet „digital“ nicht automatisch „kostenlos“ – vor allem, wenn es auch darum geht, Services weiterzuentwickeln und neu anzupassen. Wenn es um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Verwaltung geht und der Staat eher als Dienstleister wahrgenommen werden soll, könnte geprüft werden, ob es andere Geschäftsmodelle gibt, die die Dienste finanzieren. Letztlich ist es eine politische Entscheidung, wie jede Regelung zu einer Steuer oder Förderung.“

 

STANDARD: Estland gilt gemeinhin als Vorbild, was digitale Verwaltung betrifft. Was können wir vom Modell aus Tallinn lernen?

Daniela Riegler: „Estland gilt als Vorbild, jedoch ist es nicht möglich, Lösungen aus Estland eins zu eins auf andere Länder zu übertragen. Die klaren Prinzipien dagegen, welche Estland zu einem digitalen Musterland gemacht haben, können durchaus von jedem eingesetzt werden. Vor allem die radikale Nutzerzentrierung und proaktive Dienste machen das estnische Modell aus. Dort herrscht ein anderes Verständnis von der Interaktion zwischen Staat und Bevölkerung. Nicht die Bürgerinnen und Bürger treten als Bittsteller auf, sondern der Staat als Dienstleister. Darüber hinaus werden staatliche Leistungen nicht isoliert, sondern immer eingebettet in ein Ökosystem verstanden. Zum anderen besteht große Offenheit zur Zusammenarbeit von Staat und Wirtschaft. Die heutigen Herausforderungen können nicht durch die Verwaltung allein gelöst werden. Eine offene und faire Zusammenarbeit mit wirtschaftlichen Akteuren stärkt die gesamte Gesellschaft. Abschließend das Thema Mut: Es braucht mutige Personen und Institutionen, die langfristig die Verwaltung der Zukunft menschenzentriert, zugänglich, proaktiv, vertrauenswürdig und befähigend gestalten, aber auch unbeliebte Themen oder bereits gescheiterte Vorhaben erneut vorantreiben.“

 

STANDARD: Wie kann man sich eine „proaktive Verwaltung“ konkret vorstellen?

Maxim Orlov: „Darunter verstehen wir Dienstleistungen, bei denen der Staat von sich aus auf die Menschen zugeht, ohne dass ein Antrag gestellt werden muss. Einerseits erleichtert es massiv den Erhalt von Verwaltungsleistungen bei den Bürgerinnen und Bürgern, andererseits führt es zu einer wesentlichen Effizienz in der Verwaltung. Estland arbeitet seit Jahren kontinuierlich dran, dieses Prinzip auf alle Verwaltungsleistungen anzuwenden, bei denen es grundsätzlich möglich ist.“

 

STANDARD: Gibt es Best-Practice-Beispiele, was wir aus anderen Ländern lernen können?

Daniela Riegler: „Wir blicken vor allem in Länder wie Dänemark, Singapur und natürlich Estland. Dort gilt das Prinzip der „Digital Public Goods“. Das sind keine reinen Verwaltungsdienste mehr, sondern ganze Ökosysteme, die mit dem Ziel aufgebaut werden, die bestmöglichen Leistungen für Bürgerinnen und Bürger im Zusammenspiel von Wirtschaft und Verwaltung zu erbringen – und zwar in allen Lebenslagen. Auch in Richtung des Vereinigten Königreichs kann man einen Blick werfen, dort gibt es etwa ein zentrales Team, das sich nur um die Digitalisierung von Verwaltungsservices kümmert.“

 

STANDARD: Aber was macht man, wenn man den tollsten digitalen Service gebaut hat, und er wird nicht genutzt?

Maxim Orlov: „Hier spielt das Thema Vertrauen eine große Rolle. Wie groß ist das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die digitalen Angebote des Staates? In Estland kann jede Bürgerin und jeder Bürger in einer zentralen Übersicht jede vorgenommene Registerabfrage einsehen. Das schafft großes Vertrauen in die Verwaltung und zu den E-Government-Vorhaben des Landes.“

Daniela Riegler: „Österreich könnte einige der nordischen Good Practices für Bürger und Unternehmen umsetzen – von der Herstellung eines zentralen Zugangs zu allen staatlichen Förderungen über weitere proaktive Verwaltungsleistungen bis hin zum einheitlichen Design aller Regierungsanwendungen. Entscheidend ist auch die Nutzung des Datenschatzes der Verwaltung für die Generierung von Mehrwerten oder den Einsatz von datenbasierten Entscheidungsfindungen. So könnten die Schnittstellen in der Verwaltung derart geöffnet werden, dass auch der private Sektor andocken kann. Ein Beispiel: Die Geburt eines Kindes löst im Krankenhaus die Meldung ins Melderegister aus. Die Verwaltung wäre die Clearingstelle von den Registern und stellt die Qualitätssicherung der Umsetzung her.“

STANDARD: In Österreich gab es bislang zwei Geschwindigkeiten, je nachdem, wer für Digitalisierung zuständig war. Wie beurteilen Sie die Arbeit der vergangenen Regierung mit Tursky, Plakolm?

Daniela Riegler: „Die Digitalisierung scheint auf der politischen Agenda keinen prioritären Stellenwert zu haben. Auch während des Wahlkampfes konnte man das Thema Digitalisierung nur vereinzelt finden.“

Maxim Orlov: „Dennoch werden tolle Lösungen wie der „Digitale Führerschein“ den Bürgerinnen und Bürgern zur Verfügung gestellt und zu aktuellen Themen entsprechende Strategien veröffentlicht wie die neue Datenstrategie. Grundlage dafür ist eine funktionierende und zusammenarbeitende Verwaltung. Das langfristig vorausschauende Wirken der Fachorganisationen reicht über Regierungsperioden hinweg. Die gesamte Projektdauer der ID-Austria beispielsweise erstreckte sich von 2002 bis 2024.“

 

STANDARD: Was ist für Sie ein „Unding“, das in der digitalen Verwaltung nie passieren darf?

Maxim Orlov: „Digitale Angebote müssen intuitiv und benutzerfreundlich sein, um den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Unternehmen gerecht zu werden. Das Investment der Steuerzahler muss einen verständlichen und anwendbaren Mehrwert bringen. Vertrauen spielt dabei eine zentrale Rolle: Bürgerinnen und Unternehmen müssen sicher sein, dass ihre Daten in sicheren Händen sind und nicht durch Cyberangriffe in falsche Hände geraten. Die Verwaltung trägt die Verantwortung, sorgsam und vertrauensvoll mit diesen sensiblen Informationen umzugehen.“

 

STANDARD: Wir wollen natürlich nicht nur nörgeln: Was hat Österreich aus Ihrer Sicht bislang gut gemacht?

Daniela Riegler: „Die starke Basis, Vorarbeit von Jahrzehnten, ermöglicht auch zukünftig viele praktische bürgernahe Lösungen. Österreich ist bei der Umsetzung von E-Ausweisen im europäischen Vergleich sehr weit vorne. Dazu zählen der digitale Führerschein, der digitale Zulassungsschein, der digitale Altersnachweis und der digitale Identitätsnachweis. Auch das digitale Amt erspart in vielen Lebenslagen den Weg zum Amt, insbesondere für Bürger, die sich im Ausland aufhalten. Und in der Kategorie „Government as a platform“ ist Österreich an vierter Stelle des OECD-Rankings von über 30 Industrienationen.

 

STANDARD: Was wäre der nächste wichtige Schritt, den Österreich in der digitalen Verwaltung gehen müsste?

Daniela Riegler: „Wenn man weiß, wo man gemeinsam hinwill, macht man die nächsten richtigen Schritte, biegt man nicht falsch ab und ist früher dort. Es braucht eine klare, anfassbare Vision mit verbindlichen Prinzipien, die selbstverständlich für Bürgerinnen, Bürger und Unternehmen sind. Konkret könnte in Österreich als verbindliches Prinzip die ID-Austria als eine Authentifizierungsmethode mindestens auf der ohnehin fragmentierten gesamten staatlichen Portallandschaft akzeptiert werden.“

Maxim Orlov: „Weg von kleinteiligen eigenständigen Vorhaben, hin zu Lösungen mit Erleichterungen, die aus dem Alltag der Menschen nicht mehr wegzudenken sind. Das kann nach dem estnischen Vorbild das Personal Government sein: Alles, was Bürgerinnen und Bürger von Staat und Verwaltung brauchen, sollte mit nur wenigen Klicks auf dem Smartphone zugänglich sein. Hinzu kommt der Ausbau proaktiver Verwaltungsleistungen, um die Serviceleistungen wirklich spürbar zu machen.“

 

STANDARD: Was wäre Ihr größter Wunsch an die künftige Regierung, was die digitale Verwaltung betrifft?

Daniela Riegler: „Unser größter Wunsch ist, dass die künftige Regierung die Digitalisierung nicht aus den Augen verliert, darauf den Fokus mit klaren Verantwortlichkeiten setzt und wirkungsorientiert mit Budget ausstattet, sodass die verbindliche Umsetzung einer Vision für die österreichische Verwaltung der Zukunft gelingt.“

(Interview geführt von Peter Zellinger, 7.10.2024)

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